Zu viel oder zu wenig?
Ich stehe in meiner Küche und hüpfe äußerlich zwischen Herd, Arbeitsplatte und Abwasch hin und her und innerlich zwischen Panik, Aufregung, Trauer und Unsicherheit. Werden sie so viel Essen wirklich brauchen? Wie soll ich das alles transportieren? Was für eine schreckliche Situation! Wie wird das weitergehen? Ein Blick auf die Facebook-Seite bestätigt mich: JA, es wird Essen gebraucht. Die Nudeln sind zu weich, es ist gar nicht so einfach in diesen Mengen zu kochen. Vor der Abfahrt werfe ich noch ein paar Päckchen Saft, Kekse, Kaffee und Bananen dazu und mache mich auf den Weg. Es ist 22.30.
Ich stehe in meiner Küche und hüpfe äußerlich zwischen Herd, Arbeitsplatte und Abwasch hin und her und innerlich zwischen Panik, Aufregung, Trauer und Unsicherheit. Werden sie so viel Essen wirklich brauchen? Wie soll ich das alles transportieren? Was für eine schreckliche Situation! Wie wird das weitergehen? Ein Blick auf die Facebook-Seite bestätigt mich: JA, es wird Essen gebraucht. Die Nudeln sind zu weich, es ist gar nicht so einfach in diesen Mengen zu kochen. Vor der Abfahrt werfe ich noch ein paar Päckchen Saft, Kekse, Kaffee und Bananen dazu und mache mich auf den Weg. Es ist 22.30.
Bereits von der Ferne sehe ich, heute sind viel mehr
Menschen da als gestern. Ein Gefühl der Beklemmung befällt mich, als ich
überall Menschengruppen sehe, die gehen,
sitzen oder auf dem auf dem kalten Asphalt liegen, mitten in der Nacht. Ich
sehe bereits die Zelte, die Rettungswagen und Polizei. Irgendwie erinnert es
mich an das Ende eines Rockkonzertes. Ich bin froh, meine warme Jacke zu
tragen, es hat ziemlich abgekühlt, gleichzeitig hab ich ein schlechtes
Gewissen.
Es ist nun das 3. Mal, dass ich Essen bringe, an einen der
Orte, an dem sich die Flüchtlinge sammeln, weil sie nicht weiterkommen. Als ich
das erste Mal am Hauptbahnhof war, erinnerte mich der Anblick in der Halle an Reisende,
die erschöpft aber geduldig in der Halle auf
ihre Weiterreise warten und vor sich hin dösen. Ich denke an die Nächte,
in denen ich Stunden am Flughafen warten musste und ein Gefühl der Erschöpfung
befällt mich. Wie sehr habe ich mich da nach einer Dusche und einem weichen
Bett gesehnt.
Ich suche einen Abstellplatz zwischen den vielen Fahrzeugen,
die alle nicht vorschriftsmäßig parken. Es dürften SpenderInnen sein, die ihre
Ware abliefern. Die Polizei sagt heute nichts, sie ist mit anderen Dingen
beschäftigt. Kaum öffne ich den Kofferraum steht bereits eine Gruppe junger syrischer
Burschen vor mir und bietet höflich ihre Hilfe an[1].
Ja sicher! Gerne! Sie übernehmen die schweren Töpfe und warten auf mich, als
wir die Straße überqueren. Wir gehen Richtung Essensverteilstelle, überall sind
Abtrennungen mit rot-weißem Band, die die Massen trennen und ordnen. Ich sehe hinter der Absperrung, wie
sich die Leute in einer langen, aber sehr geordneten Reihe anstellen, um in
einen Bus einzusteigen. Vor dem Sanitärwagen ist eine weitere Warteschlange,
einer schaut von oben herunter mit einem Rasierer in der Hand, er scheint
jemanden zu suchen. Ich habe das Privileg, auf der anderen Seite des
Parkplatzes zu gehen, ohne Kontrollen, ohne gestoppt zu werden, ohne mich
anstellen zu müssen.
[1] Da
ich Kopftuch trage, sprechen sie mich auf Arabisch an. Glücklicherweise habe
ich Arabisch gelernt.
So viele Menschen –
so viel Geduld und Vertrauen
Als wir den Bahnhofsbereich, der zur Verfügung gestellt
wurde, betreten, nimmt es mir fast den Atem. So viele Menschen!!! Die einen
wollen hinaus, die anderen hinein doch keiner drängelt. Trotz der Massen ist
eine Ruhe und Ordnung da, nicht zuletzt wegen der vielen HelferInnen, die
überall zur Stelle sind. Alle benehmen sich sehr rücksichtsvoll, niemand
beschwert sich oder wird laut, keine weinenden Kinder. Eine Frau will an mir
vorbei, sie zieht ein Kind hinter sich her. Ich denke an meine Angst, wenn ich
mit meinen kleinen Kindern in einer Menschenmenge unterwegs bin, und dass ich ihre Hände immer fest umklammere.
Irgendwie herrscht hier ein Gefühl des
Vertrauens, der Sicherheit und der Solidarität. Der Geruch ist unerträglich,
leicht säuerlich und stinkig. Aber es ist warm, hier drinnen braucht man nicht
zu frieren. Ich denke daran, wie oft ich
lüften muss, wenn ich einen Vormittag in einem gefüllten Seminarraum unterrichte.
Links ist die Handyladestation, um die zwanzig Menschen mit
ihren Kabeln sitzen und warten. Rechts
ist die Ausgabestelle für kaltes Essen. Heute kann ich die Tische und die
HelferInnen nicht sehen, da es so ein Gedränge ist. Wir eilen weiter zu der
Ausgabestelle für warmes Essen. Die Schlange davor ist bereits um die zwanzig
Meter lang, zwischen den Menschen erspähe ich einen Blick auf die einzelnen
Töpfe auf den Tischen, aus denen Helfer das Essen schöpfen. Mein einziger
Gedanke ist: Oh mein Gott! Das wird NIE reichen! Wir dürfen durch die „lebende“
Absperrung, die die Helfer bilden, um ein Gedränge an der Essensausgabe zu
vermeiden, gehen. Meine Töpfe werden sofort übernommen und das Essen herausgeschöpft.
Wir gehen nicht ohne
die anderen!
Für heute habe ich mir vorgenommen, eine Notschlafstelle
anzubieten. Auch wenn ich mich überwinden musste. Mehrere Bekannte von mir hatten
das bereits getan und ich war bereit, unsere Türen zu öffnen. Ich gehe zur
Koordinationsstelle, am Weg dorthin werde ich mehrmals aufgehalten. „Were do
you want to go?“ Die Leute halten mich für einen Flüchtling. Zur
Koordinationsstelle, zum Arzt und so weiter darf nicht jeder. Mit den
Zauberworten „Ich bin kein Flüchtling.“ komme ich überall durch und ich fühle
mich schlecht, dass andere erst um Erlaubnis fragen müssen, um sich hier
aufhalten zu dürfen - obwohl ich verstehe, dass es nicht anders möglich ist.
Mir wird gesagt, dass ich einfach Leute ansprechen kann. Das
tue ich dann auch. Ich gehe zurück in die Halle, weiter hinten liegen die
Menschen auf dem Boden, mit oder ohne Decken. Manche haben ein Feldbett
ergattert und schlafen bereits tief. Ich spreche eine schwangere Frau, die auf
einem Feldbett sitzt und von schlafenden Kindern umringt ist, an. Ob sie einen
Platz zum schlafen brauchen, wir könnten ihnen für die Nacht einen anbieten.
Ihr Mann antwortet mit einem Lächeln: „Wir haben drei Kinder und reisen mit
meinem Bruder, er hat fünf Kinder.“ Okayyyy?! „Wir möchten nicht ohne sie hier
weg.“ Na ja, das ist nun doch zu viel. Das geht nicht. Die Kinder schlafen
tief, eng aneinander gekuschelt, ihre kleinen Gesichtchen sind blass, der Mund
offen, alle Glieder von sich gestreckt. Sie haben seit vier Tagen nicht geschlafen,
erzählt der Vater, der tiefe Ringe unter den Augen hat aber immer lächelt.
Jetzt die Kinder wieder aufwecken, ins Auto packen, zu uns bringen, in der Früh
wecken da ich in die Arbeit muss und
wieder her… Ich weiß nicht. Ob das dann eine Hilfe ist? Noch einmal biete ich
es an, sage, sie könnten als Familie mitkommen, sich waschen, duschen, essen. Er
betont noch einmal, dass er mit seinem Bruder unterwegs ist und sie
zusammenbleiben wollen. Er deutet auf ein paar ausgebeulte Decken. Wieviele
Menschen darunter liegen, kann ich nicht ausmachen. Er möchte nicht eine weiche
Matratze und duschen, wenn der Rest seiner Familie dies nicht haben kann. Er
möchte nicht, dass sie sich verlieren, so wie es vielen anderen Familien auf
der Flucht ergangen ist. Er möchte seinen Bruder im Schlaf nicht stören und
kann ihm auch nicht eine SMS schicken um ihm mitzuteilen wo er sich befindet,
da er das Handy verloren hat. Er lehnt mein Angebot dankend ab und nimmt seine
Frau an der Hand, die die Toilette aufsuchen muss. Die Kinder bleiben schlafend
alleine zurück. Ich würde mich das nicht trauen, unter so vielen Menschen. Aber
was bleibt ihm anderes übrig. Die Frau ist im neunten Monat schwanger und wer
weiß, wie schwierig es sein wird, die Toilette zu erreichen. Zur Sicherheit
bleibe ich bei den Kindern stehen, bis sie wieder zurückkommen.
Zwei Frauen stehen auf der Seite und betrachten das Getümmel. Ich frage sie,
ob sie auf jemanden warten. Hier sind alle HelferInnen per-Du, und der Umgang
miteinander ist sehr unkompliziert und freundlich. Ja, sie haben eine
Notschlafstelle anzubieten und warten nun darauf, dass ihnen eine Familie
zugeteilt wird.
Eine „leichte“ Reise
Nach ein paar Minuten haben sie eine Familie zugeteilt
bekommen, die ihr Angebot gerne annimmt, eine Frau mit zwei Kindern und ein Mann. Sie
warten noch auf den Rest der Familie Ich frage auf Arabisch, ob das ok ist für
sie, der Mann lacht zurück und sagt, sicher, das sei ganz gut ein Pause zu
machen. Er beginnt von ihrer Reise zu erzählen. Sie sei sehr leicht gewesen,
alhamdulillah[1],
nur in Griechenland war es schwer. Als Flüchtling bekommst du kein Hotel, kein
Taxi, alles verboten, sagt er. In Ungarn hatten sie Glück, sie waren mit dem
Zug gekommen, in Nickelsdorf war es am schrecklichsten, da habe man sie irgendwohin
geschickt wo nichts war, sie hätten nicht verstanden was sie hier sollten und
wie sie weiterkonnten. Dann seien sie zu Fuß gegangen. Zwischendurch lacht er
immer wieder, macht Scherze. Den Sohn habe er die ganze Zeit auf seinen
Schultern getragen. Das habe seine Schultern gekräftigt! Er strahlt so eine
Lebensfreude und Energie aus trotz der Anstrengungen, dass ich einfach nur
mitlachen kann. Na dann. Bei unserer Unterhaltung habe ich ganz vergessen, dass
die beiden Frauen ja kein Wort verstehen und mir wird wieder einmal bewusst,
was es für Hürden es bedeutet, wenn man sich mit Worten nicht verständigen
kann.
Die Frauen erklären den Weg zu ihrem Zuhause und ich
übersetze. Eine Station mit der U-Bahn,
dann zehn Minuten zu Fuß. Ob das okay wäre, frage ich mit Blick auf die müden
Kinder. Es ist nach Mitternacht. Zehn Minuten! Ha, das sei ja gar nichts, nach
dem sie tagelang zu Fuß unterwegs waren, lacht er fröhlich. Mittlerweile ist
der Rest der Familie auch da und es kann losgehen. Ein Mann spricht mich auf
Arabisch an. Kenne ich sie, die beiden Frauen, kann man ihnen trauen? Er ist
nicht sicher, er gehört zu der Familie dazu. Nein, ich kenne sie nicht, aber
sie sind sicher in Ordnung. Viele Menschen wollen helfen. Ich stelle mir vor,
wie es mir gehen würde, mit wildfremden Menschen in einer fremden Stadt, in
einem Land, dessen Sprache und Kultur ich nicht kenne mitten in der Nacht
mitzugehen um bei ihnen zu übernachten…doch sie sind schon am Aufbrechen. Ich
drehe mich um, um weiterzugehen, da ruft
mir der Familienvater über die Menschenmassen laut mit einem Lachen zu:
„Schukran ya ukhti!“[2]
Ich winke ihnen noch zu.
Ich spreche noch ein
paar andere Familien an, alle wollen zusammenbleiben, meist um die 10-20
Personen, Bruder, Mutter, Onkel, Tante, Kinder. Durchwegs freundliche
Gesichter, Menschen, die geduldig und höflich sprechen. Sie fragen auch mich
ein wenig aus, wie es mit den Grenzen aussähe, ob die Reise leicht weitergehen könnte und ob ich Ägypterin sei.
Nein, ich kann nicht viel dazu sagen, die Politiker sind momentan unberechenbar
und ihre Entscheidungen sind schwer vorhersehbar und nein, ich habe nur Ägyptisch gelernt, bin
aber Österreicherin.
Mittlerweile ist es 00.30. Immer mehr Busse
kommen. Einer mit Megaphon geht durch
die Halle und schreit: „Busse bringen euch zu Orten, an denen ihr schlafen
könnt! Bitte steigt ein, in 15 Minuten fahren sie ab.“ Es ist eine einzige
Unruhe, ein Kommen und Gehen, und ich überlege mir, dass die meisten am liebsten
wahrscheinlich hier bleiben und zu Ruhe kommen möchten an einem Ort an dem sie einigermaßen
versorgt sind. Dass sie sich nach einer Pause sehnen, ohne Angst haben zu
müssen, sich als Familien zu verlieren, verjagt oder verhaftet zu werden.
Endlich in Sicherheit-
Sie haben das Schlimmste hinter sich
Draußen auf den Gehsteigen liegen Menschen mit Decken über
dem Kopf wie die Sardinen geordnet einer neben den anderen auf dem Asphalt. Es
ist bereits spät und sie haben sicher einen anstrengenden Tag hinter sich. Bei
der Kälte, dem Lärm, dem Licht, dem Schmutz und Gestank könnte ich kein Auge
zumachen, denke ich. An einem Hydranten waschen sich ein paar Leute, ab und zu
spritzt das Wasser auf die Decken der Schlafenden. Gleich daneben der
Rettungswagen, zwischen ihm und der Wand liegen Kinder, eng zusammengekuschelt,
gleich neben den Reifen. Ein letzter Blick auf die friedlichen Massen, und ich
mache mich zurück auf den Weg zu meinem Auto. Wo kann ich nur durch? Da die Absperrungen,
dahinter die Busse, daneben Polizisten, davor die Warteschlange derjenigen, die
sich für den Bus anstellen. Wieder werde ich mehrmals aufgehalten, von freundlichen
Polizisten und Helfern, ich darf nicht
hingehen, wohin ich will. Wieder spreche ich die Zauberworte „Ich bin kein Flüchtling“,
die mir alle Wege frei machen und denke mir, wie ungerecht diese Welt doch ist.
Beim Einsteigen in das Auto fällt mein Blick auf das Hotel,
das direkt gegenüber der Sammelstelle für Flüchtlinge nur wenige Meter entfernt
ist. Die meisten Fenster sind dunkel, das waren sie auch vor drei Stunden
bereits. Ich denke an die Worte des fröhlichen Syrers: „Hotelzimmer wurden uns
nicht erlaubt“[1].
Als ich in dieser Nacht um 3.00 früh meine schlafenden
Kinder zudecke und mich in mein Bett kuschle, bin ich sehr bedrückt. Diese
weiche, warme Schlafmöglichkeit ist heute besonders vielen Menschen in unserer nächsten Nähe nicht vergönnt. Mein
Mann sagt mir etwas Tröstliches: „Diese Menschen haben bereits das Schlimmste
hinter sich.“ Es ist beruhigend, und in meinem Innersten hoffe ich, dass die
Worte meines Mannes auch wahr sind und sie nicht noch schlimmeres erleben
müssen. Beim Einschlafen spüre ich eine tiefe Dankbarkeit dafür, dass ich
irgendetwas beitragen konnte, um ihnen ein wenig ihr Leid zu lindern und dafür,
dass sie mir diese Erfahrung geschenkt haben damit ich ihre Situation besser
verstehe.
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Hier habe ich den Abend des 14. September 2015
beschrieben, ein Tag, bevor Ungarn seinen Grenzzaun vollendet hat und einer der
Tage, an dem sich am viele Menschen in Österreich an den Wiener Bahnhöfen und
Grenzübergängen ohne geregelte Versorgung und ohne gesicherten Schlafplatz aufhalten
mussten. Zahlreiche Personen wurden auch im Laufe des Abends mit privaten PKWs
und Taxis zu den Bahnhöfen gebracht, da bekannt war, dass sich dort
Notversorungsplätze befanden. Trinkwasser
ist Mangelware und wird von Spendern in Flaschen gebracht. Da die WC-Benutzung
am anderen Ende des Bahnhofs 50 Cent kostet und auch als Waschraum genutzt
wird, ist es schwierig sich dort mit Trinkwasser zu versorgen. Geschätzte 3500
Menschen befanden sich am diesem Tag am Hauptbahnhof. Die Gemeinschaft „Train of Hope“, die sich mit dem Beginn der
Flüchtlingswelle aus freiwilligen Helfern zusammengefunden hatte, hatte in den
Tagen davor eine Versorgungsstelle aufgebaut, die Essen, Wasser, Decken,
Kleidung, ärztliche Versorgung & Medikamente,
Müllabtransport, Kinderspielecke mit Hilfe von vielen SpenderInnen bereit hielt.
Sogar Duschmöglichkeiten und Ladestationen für Handys wurden organisiert.